„Comercio Atípico“: Die Geschichte der Porteadoras von Melilla

Aufgrund einer Regulierung ist es zwischen dem spanischen Melilla und dem marokkanischen Nador grundsätzlich möglich, Waren als „Handgepäck“ über die dortige europäisch-afrikanische Grenze zu tragen. Schmuggel in beide Richtungen ist an der Grenze von Melilla kein neues Phänomen und geht bis ins 19. Jahrhundert zurück. Bis in die 1970er Jahre war dies jedoch vor allem in männlicher Hand. Dann begannen immer mehr alleinstehende Frauen der Grenzregion für ihren Lebensunterhalt im kleinen Stil Produkte aus Melilla nach Nador zu transportieren.

Dadurch entstand der „Comercio Atípico“ („unüblicher Handel“), der sich in den 2000er Jahren zu einem blühenden Geschäft entwickelte. Dabei machten internationale Großhändler*innen große Gewinne, während sie marokkanische Frauen als Trägerinnen (Porteadoras) für sich arbeiten ließen. Die Trägerinnen übernahmen die Aufgabe, Güter von Spanien nach Marokko auf ihrem Rücken zu transportieren, während  Großhandel- und Speditionsunternehmen den An- und Weitertransport der Waren planten. Mit dem ersten Grenzzaun von Melilla (1998) und verstärkten Grenzkontrollen professionalisierte sich das System hin zu einer international vernetzten „Schmuggelindustrie“. Dies lockte immer mehr Frauen und später auch Männer aus ganz Marokko nach Nador, um als Träger*innen zu arbeiten. Das Gewicht der zu transportierenden „Pakete“ wuchs im Laufe der Zeit auf bis zu 80kg.

Die Grenze ermöglichte es einerseits Menschen ohne Schul- oder Berufsausbildung zu arbeiten und die nötigsten Grundbedürfnisse sicherzustellen. Die tausenden Porteadoras von Melilla und Nador sicherten so für sich und ihre Familien das Überleben. Desweiteren verschaffte das System des „comercio atípico“ ca. 450.000 weiteren Menschen allein in Marokko ein Einkommen. Andererseits arbeiteten die Trägerinnen unter sehr widrigen Bedingungen, ohne Auftragsgarantie und Arbeitsschutz. Ihre Arbeit hing stark von den bilateralen Beziehungen zwischen Marokko und Spanien und dem Wohlwollen der Grenzbeamt*innen ab.

2018 verbot die marokkanische Regierung diesen Grenzhandel sowie den kommerziellen Warenimport nach Marokko über den Hafen von Melilla.

„Ich mache mich bereits um 4 Uhr morgens auf den Weg zur Grenze, um sicher ein Paket zu ergattern, das ich transportieren kann. Ich benötige das Geld, um mich, meinen kranken Mann und meine Kinder zu versorgen. Bleibt die Grenze geschlossen, ist das ein großes Problem für mich, weil ich nicht weiß, wie ich sonst einkaufen soll.“
Hakima R.
Porteadora, 2018
„Ich bin mit meiner Mutter und meiner Großmutter aufgewachsen. In den 1980er Jahren verkaufte meine Großmutter in einem kleinen Laden auf dem Markt von Nador Produkte aus Melilla: Küchengeräte, Seife, Teller usw. Meine Mutter war eine Porteadora, die Dinge aus Melilla mitbrachte, um sie in ihrem Laden zu verkaufen. Sie überquerte die Grenze wie alle alleinstehenden Frauen zu dieser Zeit alle zwei oder drei Tage. Zuerst reiste sie ein, dann ging sie einkaufen und wartete auf die Erlaubnis, die Grenze erneut zu überqueren. Wenn sie keine Erlaubnis von der Polizei bekamen, versammelten sich die Frauen manchmal zu einem Marsch und passierten die Grenze gemeinsam.“
Abdellah B
Künstlerin Nador, 2019